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Gruß aus der Levante. Notizen aus dem östlichen Mittelmeerraum

An dieser Stelle setze ich mein Blog „Gruß vom Bosporus“ fort, das ich sieben Jahre lang aus Istanbul geführt habe.

Rückkehr nach Zypern

Von Frank Nordhausen, Mitte Juli 2020

Airport Larnaka auf Zypern: Als zwei Zubringerbusse uns an einem unscheinbar grauen Gebäude abliefern, werden wir von Wärmebildkameras gescannt, deren Ergebnis Maskenmänner prüfen, die auf Monitore starren. Dann erwarten uns zehn Frauen und Männer mit Maske, Plastikvisier und blauer Schutzkleidung. „Covid-19 Test“ steht auf einem Plakat. Noch benommen vom Dreistundenflug reihen sich die Fluggäste in dem engen Raum auf, der das Einhalten der Abstandsregeln unmöglich macht. Einer sagt sarkastisch „Ist ja wie Abenteuerurlaub“, dann schweigen alle und rücken gehorsam vor. Geben die ausgefüllten Corona-Formulare ab, lassen sich ein Stäbchen tief in die Nase fahren, bis es richtig weh tut. Den Ferienbeginn haben sie sich wohl anders vorgestellt, denke ich mir.

Für mich ist es kein Urlaubsflug. Als Auslandskorrespondent bin ich Vielflieger. Ich muss diese Maschinen benutzen, und meistens hasse ich sie und mich dafür. Sie schaden der Umwelt. Sie sind eng, unbequem, voll mit anderen Leuten, und bevor es losgeht, gibt man viel Geld für teuren Kaffee aus.

Corona bescherte mir eine willkommene Flugpause. Das letzte Flugzeug hatte ich Ende Februar betreten, als ich nach Berlin reiste, um meine hochbetagte Mutter zu sehen. Aber was dann passierte, war mir zuerst auch wieder nicht recht. Denn plötzlich war mir der Rückweg versperrt und meine Welt so eng wie nicht einmal früher in West-Berlin.

Kein Flug nach Zypern

Die Republik Zypern hatte Anfang März von heute auf morgen ihre Flughäfen für praktisch alle internationalen Flüge geschlossen. Auch die türkische Republik Nordzypern hatte den gesamten Reiseverkehr eingestellt. Zypern war abgeschottet von der Welt, und zwar fast vier Monate lang. Doch was sich als hochwirksame Strategie gegen die Corona-Pandemie erweisen sollte – die gesamte Insel hat bisher nur rund 1300 Infizierte und 24 Tote zu verzeichnen -, war ein Desaster für alle Auslandszyprioten und Dauerresidenten wie mich, die zu diesem Zeitpunkt außer Landes weilten.

Vielleicht hätte ich es sogar noch geschafft, den letzten Zypern-Flieger zu erreichen, wenn meine Gallenblase nicht verrückt gespielt hätte. Die Schmerzen wurden so schlimm, dass ich den Notarzt rufen musste. Es war fünf Uhr morgens in den Anfangstagen der Pandemie. Vier Mann in Schutzkleidung bewegten sich behutsam durch die Wohngemeinschaft im Berliner Bezirk Pankow, in der ich untergekommen war. Sie spulten ihre Routinen ab und legten mir eine Maske an, aber man spürte: Alle waren extrem vorsichtig. Und das zu Recht. Kürzlich erklärte die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass mindestens zehn Prozent aller Infizierten weltweit zum medizinischen Personal gehören.

In der Notaufnahme des Krankenhauses herrschte Hochbetrieb. Viele Leute, die annahmen, sie hätten sich infiziert, suchten Hilfe. Einer rief, er habe zwei Herzinfarkte überlebt: „Ick wer‘ jetze nich an Corona ster‘m!“ Um mich herum wurde um die Wette gehustet. Nach sieben Stunden kam ein Arzt, drückte auf meinen Bauch und ließ mich sofort zur Operation einweisen. Auf der Abteilung für Inneres wurden Zimmer für Intensivpatienten vorbereitet.

Nach Entlassung aus der Klinik stand fest: Ich war in Berlin gestrandet – und beschloss, meine Heimatstadt neu zu entdecken, zehn Jahre nach Abreise in den Nahen Osten. Während mir Freunde aus Zypern am Telefon vom extrem harten Lockdown mit nächtlicher Ausgangssperre erzählten, der Ausgänge nur zum Arzt, Supermarkt oder zur Apotheke mit vorheriger Anmeldung per SMS erlaubte und bei Nichtbefolgung mit hohen Geldstrafen geahndet wurde, konnte man in der deutschen Hauptstadt überall herumlaufen und im Spätverkauf sogar günstig Bier erwerben.

Magisches Corona-Berlin

Ich fuhr gern mit der fast völlig leeren Berliner S-Bahn. Es fühlte sich an wie Urlaub. Ich sah fantastische Hinterhöfe, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte, besuchte Kirchen, Parks und Friedhöfe, die mir unerhört groß, grün und verwunschen vorkamen, fand in der Dunckerstraße sogar eine Gedenktafel für einen verstorbenen Freund. Ich dankte dem Senat für den Beschluss, die Buchläden nicht zu schließen, weil geistige Nahrung ja auch ein Lebensmittel ist. „Bitte bringen Sie mir aktuelle Bücher“, bat mich eine Antiquarin. „Ich habe nichts mehr, alles geht weg wie warme Semmeln.“ Und ich freute mich für die kurdischen Spätverkaufs-Besitzer, die von Corona profitierten. Wenigstens diese Kurden waren mal auf der Gewinnerseite.

Corona-Berlin war magisch. Die Straßen von Autos befreit, im Himmel kein einziger Kondensstreifen. Die Gegenwart hielt für einen Moment inne, bevor sie langsam wieder Fahrt aufnahm. Dass die Zeitblase zu platzen begann, merkte ich an der Verschiebung der Schließung des Flughafens Tegel. Das tat mir leid für meine Mutter, die im benachbarten Bezirk Spandau auf das Ende des jahrzehntelangen Turbinenlärms wartet. Ich wiederum begann, Hoffnung zu schöpfen.

Anfang Juni sendete die Regierung in Nikosia Signale, dass die Airports bald geöffnet würden. Aber Flüge zu buchen, war wie ein Videospiel, dessen Regeln man nicht kennt. Sie wurden online gelistet, verschwanden dann wieder geisterhaft von den Webseiten der Airlines.

In Quarantäne

Endlich entschied die Regierung, ab dem 20. Juni alle Beschränkungen für Anreisende aus Ländern der „Niedrigrisiko“-Kategorie A wie Deutschland, Österreich oder Norwegen fallen zu lassen. Kategorie B sind zwielichtige Länder wie Belgien, Spanien oder Rumänien, deren Bewohner nur mit aktuellem negativem Testzeugnis kommen dürfen. Reisende aus „Hochrisikoländern“ der Kategorie C müssen 14 Tage in strenge Quarantäne. Dazu zählen noch immer die wichtigen zyprischen Urlauberherkunftsstaaten Russland, Israel und Schweden, weshalb man in Nikosia grübelt, wie man die Touristen einfliegt, ohne ein Infektionsdesaster anzurichten.

Kaum hatte ich einen Flug gebucht, der online nicht wieder erlosch, geschah der größte anzunehmende Unfall. In meiner Wohngemeinschaft begann jemand zu husten. Er bekam Fieber. Am dritten Tag ließ er sich testen, Ergebnis: positiv. Der Mitbewohner war ein junger Mann ohne die geringste Vorerkrankung. Schon am zweiten Tag sah er gar nicht mehr gut aus: grau im Gesicht und eingefallen. Als zwei Ärzte kamen und nach ihm schauten, wiegelten sie ab: „In einer Woche ist er wieder putzmunter. Corona ist normalerweise keine schwere Krankheit. Und er ist ja jung.“ Sie sollten recht behalten.

Wir anderen im Haushalt waren besorgt. Desinfizierten alle Klinken, Türrahmen und die Küche, verständigten uns nur noch per Klopfzeichen, versuchten, jede Begegnung im Flur zu vermeiden und rissen alle Fenster zwecks Durchzugs auf. Ängstlich horchten wir auf jedes Husten und achteten auf Anzeichen einer Ansteckung. Zum Glück war da nichts.

Meine Reisepläne konnte ich vergessen. Das Gesundheitsamt kommunizierte mit uns nicht etwa per E-Mail, sondern per Brief. Es verurteilte uns zu zwei Wochen Hausquarantäne. Wir durften nicht mal die Post aus dem Briefkasten holen oder Müll runterbringen. Wir waren komplett auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen – die das total gut machten. Unterdessen stieg unser Aggressivitätslevel. Arrest in zwei Räumen, auch wenn es die eigenen sind, ist keine schöne Erfahrung. „Ich kann verstehen, dass es hart ist, gerade bei dem tollen Wetter“, sagte die Frau vom Gesundheitsamt am Telefon.

Corona-Schock

Neidisch blickte ich durchs Fenster hinunter auf das Treiben in Restaurants und Cafés, die ihre Tische im Freien platzierten. Doch während die Leute draußen feierten, gerieten sie in Panik, sobald sie von unserem Coronakranken hörten. Wir waren Aussätzige. So fühlte es sich an, als wir mögliche Kontaktpersonen verständigten. „Unglaublich, ich dachte, Corona ist weit, weit weg“, sagte eine Freundin fassungslos am Telefon. „Es ist der Schock, dass wir sterblich sind“, bemerkte ein Mitbewohner.

Die Quarantänekontrolle war streng. Jeden zweiten Tag riefen Mitarbeiter des Gesundheitsamts an. „Wie geht es Ihnen heute? Haben Sie Fieber? Werden Sie versorgt?“ Wir wurden sogar zweimal – negativ – getestet. Sie waren sehr besorgt um uns.

Mit einer Ausnahme: Der einzige Kranke bekam nie Anrufe vom Amt. Niemand wollte wissen, wie es ihm ging. Niemanden interessierte, ob er Fieber hatte. Dafür durfte er drei Tage früher die Quarantäne beenden und uns fortan mit Bier, Erdbeeren oder Eiscreme versorgen. Er musste nur „Ja“ sagen, als man ihn fragte, ob er wieder gesund sei, getestet wurde er nicht.

Als ich die Dame vom Amt um eine Erklärung bat, erwiderte sie im Behördendeutsch: „Er hat sich früher als Sie infiziert, falls er Sie infiziert hat, deswegen darf er früher aus der Quarantäne. Wie mit ihm weiter verfahren wird, wissen wir nicht. Das macht die Kontrollabteilung.“ Nach kurzer Pause räumte sie ein: „Tja, manches, was wir hier tun, ist wirklich schwer zu erklären.“ Wir zählten die Stunden bis zur Freiheit.

Legendärer Flughafen Tegel

Zwei Tage nach Quarantäne-Schluss saß ich im Taxi zum Flughafen Tegel. Als geborener West-Berliner habe ich den alten Airport, unser Fenster zur Welt, immer geliebt. Fliegen war cool, als es die Sicherheitschecks noch nicht gab und man in der Kabine noch rauchen durfte. Später, als Auslandskorrespondent, wurden Flugreisen etwa so normal wie Bahnfahren. Aber dieser Tag in Tegel fühlte sich aufregend an, als wär’s das erste Mal. Oder das letzte.

Über die letzten Tage des legendären Flughafens ist viel geschrieben worden. Weil der Check-In diesmal so schnell ging, blieb Zeit, das berühmte Hexagon des Terminals A noch einmal in Ruhe abzulaufen und mit der Kamera festzuhalten. Ich liebe leere Flughäfen, weil ihre einsamen Gänge und die technoide Möblierung auf Fotos wie in Sci-Fi-Filmen wirken. Aber noch nie erschien mir ein fast verlassener Airport so retrofuturistisch.

Draußen, an den Abflugrüsseln, blätterte hochsymbolisch die orangenefarbene Werbung für den Autovermieter Sixt ab, die mit dem Pfeil nach links „Kerosin“ und dem nach rechts „Adrenalin“ verhieß. Drinnen herrschte eine elegische Stille, nur von Durchsagen unterbrochen, die zum Abstandwahren, Händewaschen und Einhalten „der Mund-Nase-Maskenpflicht“ aufriefen. Es gab auch Menschen. Kleine Passagierklumpen vor den wenigen geöffneten Gates. Polizisten mit Gesichtsmasken, die vorsichtig durch die Gänge mit ihren abgewetzten Sitzen patrouillierten. Alle Airline-Schalter, Reisebüros und Geschäfte waren dicht.

Früher starteten täglich mehr als 500 Flieger in Tegel. Jetzt waren es noch zwanzig. Seltsam nur, auf allen Bildschirmen lief Werbung für die Ausbildung zum Fluglotsen. Ist Fluglotse jetzt echt noch ein Beruf mit Zukunft, dachte ich?

Aus Corona-Gründen hatte ich strengere Checks als früher an der Gepäckkontrolle erwartet, aber alles war wie immer, sogar etwas freundlicher, mit Nostalgie-Bonus sozusagen. Die Maschine ist ausgebucht, sämtliche Mittelplätze besetzt, und niemand lacht bei der Durchsage: „Bitte achten Sie darauf, immer 1,50 Meter Sicherheitsabstand zu Ihren Mitpassagieren einzuhalten – soweit möglich.“

Frischluft und Aerosole

Ich machte mich so dünn wie möglich, um Körperkontakt mit dem balkanischen Riesen neben mir zu vermeiden. Als während des Flugs Wasser und Kaffee gereicht wurden, fühlten sich praktisch alle Mitreisenden animiert, ihre Masken unters Kinn zu ziehen und Aerosole durch die Gegend zu pusten. Die Flugbegleiter interessierte es nicht. Niemand drehte die Luftdüsen über dem Sitz auf, damit frische Luft einströmt und ausreichend ausgetauscht wird. Dabei waren 50 Prozent der Passagiere Grauschöpfe aus der Risikogruppe. Zum Glück hustete keiner. Ich trug eine FFP-2-Maske, aber fühlte ich mich sicher? Nicht wirklich.

Nachdem wir die Parkposition in Wien erreicht haben, konnte ich es kaum glauben. Niemand stand auf, um sein Handgepäck aus den Ablagen zu holen. Alle folgten den Anweisungen. „Sie haben das System kapiert!“, sagte das Kabinenpersonal. Im Flughafen standen, anders als in Tegel, überall Desinfektionsmittelspender. Schilder und Aufkleber auf dem Boden erinnerten an den Sicherheitsabstand, der hier 50 Zentimeter weniger beträgt.

Auch beim Anschlussflug nach Larnaka war die Maschine bis auf den letzten Platz gefüllt. Diesmal hatte einen Mittelplatz, obwohl ich mich zu erinnern meine, beim Online-Check-In einen Fenstersitz gewählt zu haben. Ich kann nicht sagen, dass der Flug Spaß machte. Spaß macht Fliegen in der Holzklasse sowieso nicht. Aber drei Stunden mit FFP-2-Maske unter dem eiskalten Luftstrom ohne einen Schluck zu trinken – ich verstand alle, die sich das Ding vom Gesicht rissen und einen Becher Wasser nahmen. Doch der Preis dafür kann hoch sein – für die Mitreisenden.

Neben mir saß ein Wiener Flugbegleiter auf dem Weg zu einem Einsatz. Beim Covid-19-Test in Larnaka fragte ich ihn, wie oft er die Prozedur schon durchgemacht habe. „Dreimal in den letzten fünf Tagen“, sagt er und verdrehte die Augen.

Zypern ist sicher

Freiheitsglück „über den Wolken“, wie im Lied von Reinhard Mey, das war einmal. Jetzt bin ich froh, als alles vorbei ist und denke darüber nach, wie sich Vielfliegen in Zukunft vermeiden lässt. Zypern soll nächstes Jahr ja endlich wieder eine Fährlinie nach Athen bekommen.

In Larnaka beträgt der Sicherheitsabstand zwei Meter. In der Ankunftshalle, wo sonst Reisegruppen wuseln, sammelt eine TUI-Frau fünf Touristen um sich. Von den Mietwagenschaltern ist nur einer besetzt. Die Luft aus der Klimaanlage ist eiskalt. Draußen brennt die Mittelmeersonne. Wer es bis hierher geschafft hat, kann nun also Ferien machen. Falls keine Quarantäne oder Maskenpflicht dazwischenkommt – wie dieser Tage in Katalonien, wo mein Bruder gerade urlaubt.

Später erzählt mir ein zyprischer Bekannter, dass seine Schwester am Flughafen Dienst tut. „Sie testen wirklich jeden einzelnen Passagier!“. Das haben sie zwei Wochen durchgehalten. Inzwischen landen wieder 50 Flugzeuge täglich. Jetzt testen sie nur noch in Stichproben. Noch kann man die täglichen Neuinfektionen an einer Hand abzählen. Noch ist Zypern vermutlich der sicherste Ferienort im ganzen Mittelmeerraum. Noch.

Am 1. August wurde Großbritannien in die Kategorie B eingestuft. Die Zahl rothäutiger Briten hat sich seither signifikant erhöht. Obwohl sie wissen, wie sehr ihre Wirtschaft am Tourismus hängt, haben viele Zyprioten dabei sehr gemischte Gefühle. Ich fühle mit ihnen. Von mir aus hätten die Engländer gern noch eine Weile auf ihrer eigenen Insel bleiben können.